Projekt

Legitimationspraktiken in Debatten um Bundeswehr-Einsätze von 1990 bis 2022

Abstract

Die Bundeswehr ist vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs seit Februar 2022 wieder verstärkt Teil der öffentlichen Wahrnehmung geworden. Bundeskanzler Scholz sprach von einer „Zeitenwende“, auf die er mit der Ankündigung eines 100-Milliarden-Pakets für die Aufrüstung der Bundeswehr reagierte. In seiner mittlerweile zu einem wichtigen Diskursereignis gewordenen Regierungserklärung begründete er diesen Schritt als Notwendigkeit, um „unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand [zu] sichern“ (Bundesregierung 2022). Nicht nur die Aufrüstung der Bundeswehr, sondern vor allem auch die Waffenlieferungen an die Ukraine sollen seit 2022 die eigene deutsche bzw. europäische Freiheit, Demokratie und den Wohlstand sichern. Diese Auffassung, demokratische Werte wie Freiheit, in anderen Teilen der Welt verteidigen zu müssen, vertritt die deutsche Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Kriegs. Diese jetzt wieder aufgekommene Debatte um die Finanzierung der Bundeswehr, aber auch um die Waffenlieferungen an die Ukraine bietet demnach Anlass, vorangegangene außen- und sicherheitspolitische Debatten diskurslinguistisch zu analysieren und somit die aktuelle zu historisieren. Dabei legt meine Dissertation, die eingebettet ist in das DFG-geförderte Projekt Kontroverse Diskurse. Sprachgeschichte als Zeitgeschichte seit 1990, den Fokus auf die Rolle von ›Verantwortung‹ in den Legitimationspraktiken außen- und sicherheitspolitischer Debatten von 1990 bis 2022. Aus der Wiedervereinigung wurde – nicht nur in den 1990er Jahren – eine „neue Verantwortung“ abgeleitet: Mit der wieder gewonnenen Souveränität sollte sich die vereinte Bundesrepublik nun auch außenpolitisch ‚normal‘ entwickeln und ihrer Verantwortung gerecht werden. Dieser angestrebte Wandel wurde vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung vielfach beschrieben: In der ‚Bonner Republik‘ habe als außenpolitisches Konzept die ›Kultur der Zurückhaltung‹ bzw. des ›Antimilitarismus‹ vorgeherrscht; diese Konzepte seien in den späten 80er bzw. frühen 90er Jahren ins Wanken geraten (vgl. z.B. Baumann/Hellmann 2001: 61ff.). Mit ›Verantwortung‹ wurde dann in der ‚Berliner Republik‘ nicht mehr für eine militärische Zurückhaltung in außenpolitischen Fragen, sondern für die Beteiligung an militärischen Einsätzen argumentiert (vgl. Hellmann et al. 2008: 164f.). Diese Legitimationsstrategien in Diskussionen um die Beteiligung bzw. Nicht-Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen oder Waffenlieferungen untersuche ich in meiner Dissertation qualitativ und quantitativ anhand von Zeitungstexten aus deutschen Tages- und Wochenzeitungen (BILD, DIE ZEIT, FAZ, SPIEGEL, SZ, taz) und den Plenarprotokollen des Deutschen Bundestags. Dabei konzentriere ich mich bei meiner Analyse neben der diskurslinguistischen Erarbeitung eines sich wandelnden Verantwortungskonzepts auch auf die in den außen- und sicherheitspolitischen Diskussionen stattfindende Verhandlung von demokratischen Werten wie ›Freiheit‹ und ›Sicherheit‹, die von Wengeler/Kuck (2022) als diskurssemantische Grundfigur in außen- und innenpolitischen Diskursen beschrieben wurden.

Literatur

Baumann, Rainer/Hellmann, Gunther (2001): Germany and the Use of Military Force: ‘Total War’, the ‘Culture of Restraint’ and the Quest for Normality. In: German Politics 10(1), S. 61–82.

Die Bundesregierung (2022): Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022. Unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356 (Zuletzt geöffnet am: 28.04.22).

Hellmann, Gunther/Weber, Christian/Sauer, Frank/Schirmbeck, Sonja (2008): ‚Verantwortung‘. In: Hellmann, Gunther/Weber, Christian/Sauer, Frank (Hg.): Die Semantik der neuen deutschen Außenpolitik. Eine Analyse des außenpolitischen Vokabulars seit Mitte der 1980er Jahre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 164-171.

Wengeler, Martin/Kuck, Kristin (2022): „Deutschlands neue Verantwortung“. Diskurse um Äußere und Innere Sicherheit in Deutschland seit 1990. In: aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 18.3, S. 261–279.