Projekt
Kommentieren im Medienwandel
Abstract
Kommentieren gehört zum Repertoire im alltäglichen Sprachgebrauch. Explizit präsent und hochfrequent in der Verwendung sind die Begriffe ‚Kommentieren‘ und ‚Kommentar‘ aber vor allem in unterschiedlichen Formen der Internet-Kommunikation. Online bezeichnet man alles Mögliche als Kommentierung – zu Zeitungstexten Stellung nehmen oder Bücher rezensieren in Anlehnung an konventionelle Textsorten wie den Leserbrief, den journalistischen Kommentar oder die Rezension, Produkte bewerten, Anmerkungen zu Blogs, Posts, Tweets, Profilen oder Bildern machen, in gesprächsartigen Kommunikationsformen auf Aussagen anderer reagieren, einfach irgendetwas zu irgendetwas sagen. Die Begriffe werden immer beliebiger benutzt, haben sich zu einer sehr weit gefassten Ethnokategorie entwickelt (vgl. Androutsopoulos 2005: 112). Meist wird darunter allgemein eine bewertende Meinungsäußerung verstanden, sowohl im Laienverständnis als auch in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur und sowohl auf alltägliche Kommunikationsszenarien bezogen als auch auf bestimmte fachlich-professionell geprägte Textsorten wie den journalistischen Kommentar (vgl. z.B. Lenk 2012, Ramge 1994, Bubenhofer/Spieß 2012).
Im hier vorgestellten Habilitations-Projekt soll das Kommentieren hingegen nicht vereinfacht in die Kategorie Bewertung bzw. Meinungsäußerung eingeordnet oder in Form von bestimmten Textsortenbeschreibungen gefasst, sondern differenzierter als komplexe Sprachhandlung untersucht werden, die vor allem durch sprachliches Perspektivieren und Kontextualisieren in Interaktion mit einem oder mehreren Bezugstexten geprägt ist. Diesbzgl. kann differenziert werden zwischen drei konstituierenden Komponenten des Kommentierens: dem Kommentandum, das den Wirklichkeitsausschnitt bzw. Text, über den etwas ausgesagt wird, enthält, dem Kommentat, in dem verbalisiert wird, was aus dem Kommentandum ausgewählt wurde, und dem Kommentor, der den eigentlichen propositionalen Gehalt des Kommentars darstellt (vgl. Posner 1972). Der Kommentierende selektiert und verknüpft also Bezugstexte und trägt den eigenen Rezeptionsprozess in die Interaktion hinein. Im Zuge dessen werden Informationen in den eigenen Bestand an Kenntnissen und Einstellungen integriert und Schwerpunkte gesetzt bzw. umverteilt. Diese Dimension der Rekontextualisierung von Wissen als wesentliches Element des Kommentierens (vgl. Bender 2017) wurde bislang kaum beachtet. Dabei geht aus ihr Perspektivität als weiteres Wesensmerkmal des Kommentierens erst hervor. Diese wird von Köller (2004: 8f.) differenzierter beschrieben wird als relationales Zusammenwirken von subjektseitigem Sehepunkt und objektseitigen Aspekten. Bezogen auf das Kommentieren würden den Sehepunkten einerseits sprachliche Spuren bestimmter Vorkenntnisse und -einstellungen entsprechen, den Aspekten der Objektsphäre andererseits die für die Kommentierung ausgewählten Inhalte des Kommentandums.
Weiter ausdifferenzieren lässt sich das kommentierende Perspektivieren durch die Unterscheidung der Handlungsmuster Sachverhaltskonstituierung bzw. Sachverhaltsklassifizierung als Sachverhaltsfestsetzung mit allgemeinem Faktizitätsanspruch, Sachverhaltsverknüpfung in Wissensrahmen bzw. Wissensdispositionen und Sachverhaltsbewertung (vgl. Felder 2009). Neben dem Setzen und Selektieren bestimmter Inhalte spielt folglich Kontextualisierung eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang. Aufbauend auf der Kontextualisierungstheorie (Firth 1957, Gumperz 1982, Auer 1986 u.a.) lassen sich verschiedene Kontextschichten um eine Fokuskonstruktion unterscheiden: Kotext (Text- und Interaktionsmuster), Situation (Setting und Personenkonstellation), Gesellschaftsdomäne / soziale Rolle und Wissensdomäne (Thema, Diskurs) (vgl. Müller 2015: 78). Im Hinblick auf das Kommentieren ist vor diesem Hintergrund die Frage, wie einerseits das Kommentandum kontextualisiert wird, wie andererseits die Sachverhaltsverknüpfung und Kontextualisierung im Kommentar umgesetzt wird und mit welchem Rollenverhalten des/der Kommentierenden dies jeweils einhergeht. Insbesondere in den Blick genommen werden im Rahmen des Projekts die Kohärenzstrukturen, die in diesen Interaktionen bzw. kommunikativen Koorientierungen (vgl. Feilke 1996: 57, 63) zwischen Kommentar und Kommentandum bzw. dessen Produzent/inn/en entstehen. Anhand der analysierbaren ‚contextualisation cues‘ (vgl. Gumperz 1982), die auf Kontextaspekte indexikalisch verweisen (vgl. Feilke 1994: 285ff.), werden die Konstellationen von Text- bzw. Sachverhaltsverknüpfungen im Zusammenhang mit den Kommentierenden-Rollen untersucht, z.B. im Hinblick auf deren kommunikative Professionalität, fachliche Expertise, Betroffenheit usw. Diese Zielstellung erfordert, dass im empirischen Teil der Arbeit mit mehreren unterschiedlichen Korpora – sowohl mit bestehenden als auch mit eigens erstellten – gearbeitet werden muss, um die synchrone sowie diachrone Untersuchung von Beispielen aus verschiedenen Kontexten, das Testen von Hypothesen in verschiedenen Phasen und die induktive Analyse eines heterogenen Spektrums kommunikativer Gattungen zu ermöglichen. Einerseits sind Text- und Gesprächssorten relevant, die konventionell durch Kommentierung und entsprechende Rollen geprägt sind (z.B. Zeitungskommentare, wissenschaftliche Rezensionen, Bundestagsdebatten), andererseits aber auch Korpora, in deren Texten in Aushandlungsprozessen und Kommentierungshandlungen Rollenzuweisungen erst erfolgen, also bspw. in mehr oder weniger anonymisierten Online-Foren oder in der Anschlusskommunikation an Blogs.
Literatur
Androutsopoulos, Jannis (2005): Onlinemagazine & Co. Publizistische Nischenangebote im Internet. In: Siever, Torsten; Schlobinski, Peter; Runkehl, Jens: Websprache.net. Sprache und Kommunikation im Internet. Berlin/New York, S. 98-131.
Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47.
Bender, Michael (2017): (Re)Kontextualisieren und Kommentieren. Vortrag im Kolloquium „Rekontextualisierung als Forschungsparadigma des Digitalen“ (Universität Stuttgart, Research Center for Text Studies), Publikation in Vorbereitung. (http://www.uni-stuttgart.de/dh/news/Rekontextualisierung_FP.pdf)
Bubenhofer, Noah; Spieß, Constanze (2012): Zur grammatischen Oberflächenstruktur von Kommentaren. Eine korpuslinguistische Analyse typischer Sprachgebrauchsmuster im kontrastiven Vergleich. In: Grösslinger, Christian/Held, Gudrun/Stöckl, Hartmut (Hrsg.): Pressetextsorten jenseits der „News“: Medienlinguistische Perspektiven auf journalistische Kreativität. Frankfurt (= Sprache im Kontext 38), S. 87-105.
Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a.M.
Feilke, Helmuth (1994): Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a.M.
Felder, Ekkehard (2009): Sprache – das Tor zur Welt!? Perspektiven und Tendenzen in sprachlichen Äußerungen. In: ders. (Hrsg.): Sprache. Berlin u.a. (Heidelberger Jahrbücher, Bd. 53), S. 13-57.
Firth, John R. (1957): Papers in Linguistics (1934-1951). London.
Gumperz, John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge.
Köller, Wilhelm (2004): Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin, New York.
Lenk, Hartmut (2012): Von der Illokutionsstruktur zum Handlungsweg. Methodologische
Überlegungen zur Analyse der Handlungsstruktur von Zeitungskommentaren. In: Lenk, Hartmut; Vesalainen, Marjo (Hrsg.): Persuasionsstile in Europa. Methodologie und Empirie kontrastiver Untersuchungen zur Textsorte Kommentar. (Germanistische Linguistik; 218-219). Hildesheim, Zürich und New York, S. 115-158.
Müller, Marcus (2015): Sprachliches Rollenverhalten. Korpuspragmatische Studien zu divergenten Kontextualisierungen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Berlin, Boston.
Posner, Roland (1972): Theorie des Kommentierens. Eine Grundlagenstudie zu Semantik und Pragmatik. Frankfurt a.M. (= Linguistische Forschungen 9)
Ramge, Hans (1994): Auf der Suche nach der Evaluation in Zeitungskommentaren. In: Moilanen, Markku; Tiittula, Liisa (Hrsg.): Überredung in der Presse. Texte, Strategien, Analysen. Berlin / New York, S. 101-120.