Projekt
Sprachliche Indikatoren für das Konzept der ›Betroffenheit‹.
Eine diskurs- und gesprächsanalytische Untersuchung zu sprachlichen Indikatoren des Betroffenheitskonzepts in medizinischen Diskursen.
Abstract
›Betroffenheit‹ lässt sich als transaktionales, teil-empathisches Phänomen beschreiben, das infolge unerwarteter Ereignisse auftritt und für die Lebensumstände eines Individuums nicht folgenlos bleibt. Als „Kognition und Emotionen verknüpfendes“ (Bergius 2016, S. 286) Konzept berührt ›Betroffenheit‹ sowohl private als auch öffentliche Bereiche des alltäglichen Lebens. Dabei kann der Zustand von Betroffenheit etwa in einem Arbeitsplatzwechsel oder aber einem lebensbedrohlichen Befund begründet liegen.
Erkrankt ein Mensch an Krebs, führt diese Diagnose bei Patienten und Angehörigen zu tiefer Betroffenheit. Für Ärzte, Krankenpfleger und Psychologen ist der Umgang mit Betroffenheit ebenfalls fester Bestandteil des klinischen (Arbeits-)Alltags. In diesem Zusammenhang kommt Sprache als therapeutisches Hilfsmittel eine bedeutende Rolle im Einsatz ärztlicher Gesprächsführung zu: In psychoonkologischen
Gesprächen kann eine psychische Entlastung des Betroffenen erzielt und im Falle einer malignen Erkrankung systematischer über mögliche Behandlungsschritte beraten werden. Auch abseits therapeutischer Kontexte muss verdeutlicht werden, dass selbst Wissen über rein medizinische Sachverhalte unmittelbar an Sprache gebunden ist (Busch/Spranz-Fogasy 2015, S. 335).
Das Dissertationsprojekt untersucht sprachliche Indikatoren des Betroffenheitskonzepts in medizinischen Diskursen der (Psycho-)Onkologie unter Rücksichtnahme der erwähnten Verbindung von Sprache und medizinischem Handeln. Ausschlaggebend sind sowohl persönlich motivierte Erlebnisberichte und fachmedizinisch geprägte Diagnosegespräche als auch diskursiv ausgehandelte Wissensbestände über medizinische Sachverhalte. Die erkenntnisleitende Frage untersucht, welche sprachlichen Indikatoren und relevant gesetzten Konzepte für die sprachliche Artikulation von ›Betroffenheit‹ in medizinischen Diskursen der Onkologie bezeichnend sind.
Als Datengrundlage dienen mündliche und schriftliche Texte, die in Ergänzung zueinander Anwendung finden. Infolgedessen wird private ›Betroffenheit‹ im Rahmen der ethnographischen Gesprächsanalyse untersucht, während mit Hilfe diskursanalytischer Untersuchungen privat-öffentliche und öffentliche Betroffenheitskonzepte im Diskurs erfasst werden. Die methodische Zusammenführung von Diskurs- und Gesprächsanalyse knüpft an die fehlende Berücksichtigung mündlicher Daten in diskursanalytischem Rahmen an. Vor dem Hintergrund sogenannter „‚Real world‘-Probleme“ (Roth/Spiegel 2013, S. 7) werden soziale Praxis und Diskurs unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Bedingtheit erfasst und Konzepte der Funktionalen Pragmatik mit Konzepten der Diskurslinguistik verbunden. ›Betroffenheit‹ soll folglich im Diskurs und in konkreten Diskursrealisationen eingefangen werden.
In Kooperation mit der psychoonkologischen Abteilung des Universitätsklinikums Heidelberg können durch die Belastungseinschätzung des fachmedizinischen Personals zudem präventive Maßnahmen in Pflegeberufen geschaffen werden: Eine onlinebasierte Intervention zur Förderung der psychischen Gesundheit onkologischer Mitarbeiter, die als Reaktion auf zunehmende psychosomatische Erschöpfungssymptome wie Burnout, kumulierte Trauer und Compassion Fatigue entwickelt wurde, zielt darauf, die in der Onkologie auftretenden Belastungsstörungen präventiv zu reduzieren.
Ziel des Dissertationsprojekts ist, mit Hilfe differenzierter Untersuchungskorpora Sprache und Medizin hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter Aspekte synergetisch miteinander zu verbinden:
- Für Patienten lassen sich diagnostische und therapeutische Verfahren im Sinne individualisierter Medizin durch sprachanalytische Untersuchungen optimieren; besonders in der Onkologie kann die Auseinandersetzung mit betroffenen Patienten zu personalisierten Verfahren führen.
- Belastungsevaluierung des fachmedizinischen Personals: Entscheidend ist der hier angestrebte Schutz pflegerischer Berufsbilder durch die Reduzierung auftretender psychischer und physischer Belastungen betreuender Personen.
- Die Analyse Angehöriger von Krebspatienten leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckung aktueller Denkmuster, Überzeugungen und Ängste einer Sprachgemeinschaft, die sich in öffentlichen Diskursen über Medizin widerspiegeln. Da das soziale Umfeld der Patienten oft an Entscheidungen über mögliche Behandlungsmethoden beteiligt sind, besteht die dringende Notwendigkeit, auch Angehörigen komplexe medizinische Zusammenhänge verständlich zu vermitteln.
- Das Aufschlüsseln zwischen Fach- und Alltagssprache trägt wesentlich dazu bei, Missverständnisse über Diagnosen und Behandlungsmethoden transparent zu machen und Betroffenen einen größeren Entscheidungsspielraum sowie eine selbstbestimmtere Behandlungsauswahl zu gewährleisten.
Basierend auf den Annahmen a) selbst Erkenntnisse vermeintlich objektiver Wissenschaften in Sprache fassen zu müssen und b) Diskurse als prägend für gesamtgesellschaftliche Denk- und Verhaltensprozesse zu bestimmen (Felder 2007, S. 46), soll die Untersuchung des Betroffenheitskonzepts in medizinischen Diskursen der Onkologie das Dialogpotenzial zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften erweitern und einen entscheidenden Anstoß zu möglichen Verbesserungsansätzen in der Gesundheitspolitik ermöglichen. Konkrete Anwendungsfelder ergeben sich aus der Weiterentwicklung qualitätsgesicherter Gesprächskompetenzen, der Identifikation psychoonkologischer Versorgungslücken sowie der unbedingten Orientierung und Anpassung an betroffene Patienten.
Literatur
Bergius, Rudolf: „Betroffenheit“, in: Dorsch – Lexikon der Psychologie, 172016, S. 286.
Busch, Albert/ Spranz-Fogasy, Thomas (2015): Sprache in der Medizin. In: Felder, Ekkehard/Gardt, Andreas (Hrsg.): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin, Boston (Handbücher Sprachwissen 1), S. 335-357.
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